Dienstag, 26. März 2013

Dona nobis pacem

Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll.
Bei der letzten Minute des Konzerts?
Vor 13 Jahren?
Am Donnerstag?

Ja, fange ich mit dem Donnerstag an. Mit dem Brief, der offen im Lehrerzimmer aushing. Die Geschichte einer Kollegin, sie erzählt von ihren letzten Monaten, die sie zwischen Hoffen und Bangen verbrachte - bis sie vor einer Woche ihr kleines Ungeborenes gehen lassen musste. Nicht überraschend, und doch viel zu schnell. Viel zu früh sowieso. In Worten voller Liebe und Trauer erzählt sie von ihrem gerade erst beginnenden Weg des Abschieds - und wie sie, da sie nach den Osterferien wieder zu uns kommen wird, gern aufgenommen werden möchte. Was sie wünscht, was sie braucht - Offenheit und Raum für ihre Trauer. Stark, der Mut zu diesem Brief. Stark, in welcher Klarheit sie ihre Bedürfnisse benennt.

Ich lese den Brief, gehe mit Tränen in den Augen nach Hause. Zufall, dass ein paar Stunden später mein h-moll-Messen-Wochenende beginnt? Letzte Chorprobe, Hauptprobe mit Orchester, Generalprobe, Konzert, in dichter Folge. Kaum etwas anderes findet in diesen Tagen Platz.
Ich greife meine Noten, die mich erinnerungsgefüllt durch die letzten drei Monate geführt haben, und aus denen ich in jeder Probe, während ich Neues eintrug, alte Eintragungen ausradierte. Weil ich damals - bei meiner letzten h-moll-Messe - eine andere Stimme gesungen habe, weil es ein anderer Chor, ein anderer Chorleiter, eine andere Interpretation war. Und mit den Bleistifteintragungen ist mir, als lösche ich und radiere ich - oder nein: als hebe ich auf, lasse ich ins Jetzt verschmelzen, was damals war.
Damals.
Vor 13 Jahren.
Ich trug ein Kind in mir. Mein erstes. Das ältere Geschwister - Bruder oder Schwester? ich weiß es nicht - meiner beiden, die hier gerade so lebendig durchs Haus springen. Mein erstes Kind sang die h-moll-Messe mit mir, damals an Pfingsten, es pochte genau in den Stunden zwischen Generalprobe und Konzert an, zeigte sich mir, und sagte im gleichen Atemzug, dass es schon wieder bereit sei zu gehen. Ich wollte und konnte ihm nicht glauben, hielt an der Hoffnung fest ... bis es sich einige Wochen später tatsächlich auf den Weg gemacht hatte. --- Ich weiß nicht, wo es jetzt ist, mein Pfingststernchen, nun schon Teenager (wow!), ich weiß nur, dass es auf wundersame Weise den Weg für seine beiden Geschwister gebahnt hat ...

Der Rest ist Singen.
(Dass ich - zufällig - in einer der Proben neben der Frau zu sitzen komme, deren erstes Kind ich vor vielen Jahren erahnte, genau als wir das Et resurrexit aus dieser Messe bei Fernsehaufnahmen sangen, und sie von sich aus mitten in der Probe sagt "weißt du noch" - und dass ich dann auf dem Podest in der Kirche neben einer Frau mit dem Namen Mirjam singe - und dass nach dem Konzert ein junger Mitsänger, der heute eben doch nicht mitsang, ins Gasthaus kommt, wo wir alle beisammen sitzen, und uns Fotos seines wenige Stunden alten Erstgeborenen zeigt - und dass wir gerade in dem Moment ganz alte Probenfotos angeschaut hatten und der Satz gefallen war, dass dieser Cellist vergangenen Mittwoch gestorben sei, ob wir das mitbekommen hätten - das alles, dieser weite Bogen, über das Ganze gespannt, der wundert mich schon nicht mehr ...)
Alles ist Singen.
Mit jeder Probe kommen wir mehr in der Messe an, wir alle. Unglaubliche Dichte, immer noch tiefer hineinführend. Eine Aufführung am Abend, in der ich die einzelnen Noten fast vergesse, und die Scheinwerfer, und die Aufregung (welche mir so oft das völlige Hineinsinken während des Konzerts verhinderte - heute ist das anders).
Es singt durch mich. Meine Sprache ist zu blass, dieses Fließen zu beschreiben.
Ohne Worte, unsagbar.
(Später am Abend versucht unser Chorleiter doch Worte zu finden. So haben wir ihn noch nie gehört: Es seien ihm heute so viele tief bewegende Momente geschenkt worden, dass er nur demütig dankbar sein könne. Und als der letzte Ton im Verklingen war, da hätte er lange nicht gewusst, was jetzt noch sein würde, wie es jetzt weitergehen könne, wie aus dieser Musik jemals wieder herauszufinden sei. So sagt er.)

Ich könnte fast jedes Stück hier einstellen. So viel durchlebte ich in den zwei Stunden.
Eines wähle ich für hier aus, in welchem sich jubilierendster Jubel mit einem über den Rücken laufenden Schauer vermischten, als wir es sangen.




Und ein anderes. Ein besonderes.
Dona nobis pacem.
Besonders ist es nicht nur, weil damit die Messe endet. Weil es auch ein Anfang ist. (Und wieder weiß ich nicht, ob ich damit sagen kann, was ich gern sagen würde.)
Ich weiß nicht, wo ich all die Proben lang meine Augen hatte. Erst jetzt im Konzert lese ich, was ich vor vielen, vielen Jahren - nach einer Chorleiterbemerkung? - oben vor der ersten Note dazu geschrieben hatte: "Musik des Gratias. Töne tiefsten Dankes".
Ja. Bitte und Dank verwoben. Anfang und Ende ...
Wir beginnen im allerinnigsten Pianissimo (wie ich es in keiner Aufnahme finden konnte), und mit jedem Takt wird es kraftvoller, intensiver, tiefer, immer noch mehr, immer noch inniger - oder nein: es war alles von Anfang an schon da. Das Werden ist Sein.  --- Ich weiß nicht mehr, ob ich in diesen Momenten an unsere Kinder denke, an das meiner Kollegin und an meines (und nicht nur an diese beiden), oder ob sie ohne Gedankenworte in mir sind - ich weiß nur, dass mir plötzlich die Tränen übers Gesicht laufen. Ich kann die letzten Takte nur noch lautlos mitsingen.
(Noch nie - in vielleicht 200 Chorkonzerten, fünfmal diese Messe - haben Tränen mir im Konzert die Stimme genommen. Zum Glück sind wir Chor, zum Glück singen die anderen weiter. Denn für versagende Stimmen zahlen die Leute ja nicht ihre Eintrittskarte. Aber gut. Das ist von außen betrachtet. Von innen her konnte es gar nicht anders sein. Von innen her war es richtig so ...)

Die Musik ist vorbei.
Die Stille nicht.
Lange, lange, lange wartet der Beifall. Auch das - noch nie so erlebt.



Gib uns Frieden.

Danke.

(Und ein letzter Nichtzufall: Dass diese Aufnahme, die meiner Vorstellung und Erinnerung am nächsten kommt, ausgerechnet aus der Leipziger Thomaskirche stammt. Ein Ort, mit dem ich mich gerade in diesen Tagen sehr verbunden fühle ...)


4 Kommentare:

  1. So vertraut (und so schmerzhaft für mich, weil dichtestens mit der Vatergeschichte verknüpft.) Ich freue mich sehr für dich und mit dir, dass dieses Geschenk in diese zeit hinein reicht, dass es dich trägt und umspült und öffnet.
    Es wird sich unlöschbar einschreiben in dir, da bin ich mir sicher, auch wenn es wieder klanglosere Zeiten geben wird.
    Alles Liebe
    Gabriela

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  2. danke fürs teilen.

    (wie wunderbar es doch ist, daß musik so tief gehen kann, wenn sie 'selbstgemacht' ist. "es ist, als öffne sich der himmel." - so oder ähnlich las ich einst über dieses erleben. es ist lange her, daß ich es selbst erlebte, doch ich werde es nie vergessen!)

    alles liebe!

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  3. Nur ganz selten schaffe ich es, bei dir ein paar Einträge zu lesen. Aber ich habe dich nicht vergessen.
    Dieser hier hat mich sehr berührt.
    Ich schicke dir einen lieben Gruß ins Neckarland und wünsche dir einen entspannten und fröhlichen Sonntag,
    Constanze

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